Die demografische Entwicklung in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung
von Tim André
Einleitung
Der demografische Wandel ist neben der Globalisierung oder Digitalisierung einer der gesellschaftlichen Megatrends. Die damit verbundenen Veränderungen vollziehen sich nur langsam. Ihre Folgen werden unsere Gesellschaften allerdings langfristig prägen.
Der demografische Wandel verläuft nicht überall in Deutschland gleichermaßen. Unterschiede gibt es sowohl zwischen West- und Ostdeutschland aber auch zwischen ländlichen und städtischen Regionen.
Auch in Deutschland sind die Auswirkungen des demografischen Wandels bereits zu spüren. Allerdings gibt es teils deutliche regionale Unterschiede: die Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland verliefen in den letzten Jahrzehnten sehr unterschiedlich, ebenso wie jene zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Darüber hinaus gibt es bedeutende Unterschiede zwischen wirtschaftlich dynamischen Regionen und jenen, in denen die wirtschaftliche Entwicklung weniger dynamisch verläuft.
Hauptursachen für die aktuellen Entwicklungen sind vor allem anhaltend niedrige Geburtenraten und eine sinkende Sterblichkeit älterer Bevölkerungsgruppen, die eine höhere Lebenserwartung zur Folge hat. Hinzu kommen regional unterschiedliche ausgeprägte Dynamiken der Zu- und Abwanderung.
Der Artikel gibt einen Überblick über die demografische Entwicklung in den fünf ostdeutschen Flächenländern seit der Wiedervereinigung. Er beschränkt sich auf die übergeordneten Entwicklungen bei Geburten, Sterblichkeit und Wanderungen, ohne differenziert auf die drei Teilaspekte einzugehen. Diese werden Inhalt weiterer Beiträge sein. Vereinzelt werden die Verläufe mit jenen in Westdeutschland verglichen. Alle hier verwendeten Daten stammen vom Statistischen Bundesamt, sofern nicht anders gekennzeichnet.
Die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland
Die Bevölkerung der ostdeutschen Bundesländer1 ist seit der Wiedervereinigung stark zurückgegangen. Seit 1990 verringerte sich die Zahl der Einwohner*innen um insgesamt 2,2 Mio. Personen (vgl. Tabelle 1). Das entspricht einem Rückgang um 15 %. Besonders gravierend war die Entwicklung in Thüringen (– 18 %) und Sachsen-Anhalt (– 24 %). Brandenburg konnte dagegen seinen Bevölkerungsstand weitgehend konstant halten (– 2 %).
Vor allem in den Jahren vor 2011 verringerte sich die Bevölkerungszahl in den ostdeutschen Bundesländern. Der Rückgang der weiblichen Bevölkerung lag dabei deutlich über jenem der männlichen.
Vor allem in den Jahren zwischen 1990 und 2010 ging die Bevölkerung der ostdeutschen Flächenländer zurück. In diesem Zeitraum verzeichnete Ostdeutschland 85 % (– 1,9 Mio. Personen) des gesamten Bevölkerungsrückgangs nach der Wiedervereinigung. Auch in den anderen Bundesländern betrug der Rückgang zwischen 80 % und 90 % des gesamten Bevölkerungsverlustes (vgl. Tabelle 1). Eine Ausnahme bildete Brandenburg, dessen Bevölkerungszahl im Jahr 2010/2011 seinen Tiefpunkt erreichte. In den vergangenen Jahren konnte es jedoch einen Teil des ursprünglichen Rückgangs kompensieren.2 In den anderen Bundesländern waren die Bevölkerungszahlen seit 2011 nahezu konstant und sanken nur noch leicht.
Deutliche Unterschiede gibt es im Geschlechtervergleich. Der Rückgang der weiblichen Bevölkerung war größer als jener der männlichen Bevölkerung. Insgesamt waren 61 % des gesamten Bevölkerungsrückgangs auf Frauen zurückzuführen. Einem Rückgang von 1,4 Millionen Frauen stand ein Rückgang von 0,9 Millionen Männern gegenüber. Während die männliche Bevölkerung in Ostdeutschland zwischen 1990 und 2019 um 12 % zurückging, betrug der Rückgang bei den Frauen 18 %.
Bevölkerungsentwicklung in den ostdeutschen Bundesländern | ||||||
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Jahr | Ostdeutschland1 | Brandenburg | Mecklenburg-Vorpommern | Sachsen | Sachsen-Anhalt | Thüringen |
Bevölkerungszahl | ||||||
1990 | 14.751.848 | 2.578.312 | 1.923.959 | 4.764.301 | 2.873.957 | 2.611.319 |
2010 | 12.865.108 | 2.503.273 | 1.642.327 | 4.149.477 | 2.335.006 | 2.235.025 |
2011 | 12.572.600 | 2.453.180 | 1.606.899 | 4.054.182 | 2.276.736 | 2.181.603 |
2019 | 12.530.162 | 2.521.893 | 1.608.138 | 4.071.971 | 2.194.782 | 2.133.378 |
Bevölkerungsentwicklung absolut | ||||||
1990 – 2019 | −2.221.686 | −56.419 | −315.821 | −692.330 | −679.175 | −477.941 |
1990 – 2010 | −1.886.740 | −75.039 | −281.632 | −614.824 | −538.951 | −376.294 |
2010 – 2011 | −292.508 | −50.093 | −35.428 | −95.295 | −58.270 | −53.422 |
2011 – 2019 | −42.438 | 68.713 | 1.239 | 17.789 | −81.954 | −48.225 |
Bevölkerungsentwicklung relativ | ||||||
1990 – 2019 | −15,1% | −2,2% | −16,4% | −14,5% | −23,6% | −18,3% |
1990 – 2010 | −12,8% | −2,9% | −14,6% | −12,9% | −18,8% | −14,4% |
2010 – 2011 | −2,3% | −2,0% | −2,2% | −2,3% | −2,5% | −2,4% |
2011 – 2019 | −0,3% | 2,8% | 1,0% | 4,0% | −3,6% | −2,2% |
Anteil des genannten Zeitraums an Bevölkerungsentwicklung seit der Wiedervereinigung | ||||||
1990 – 2010 | 84,9% | 133,0% | 89,2% | 88,8% | 79,4% | 78,7% |
2010 – 2011 | 13,2% | 88,8% | 11,2% | 13,8% | 8,6% | 11,2% |
2011 – 2019 | 1,9% | −121,8% | −0,4% | −2,6% | 12,1% | 10,1% |
Quelle: destatis. | ||||||
1 Ohne Berlin. |
Ein Blick auf die Bevölkerungsdaten auf Kreisebene verdeutlicht, dass alte und neue Bundesländer seit der Wiedervereinigung demografisch sehr unterschiedlich entwickelt haben (vgl. Abbildung 1a). In 63 der 76 ostdeutschen Kreise und kreisfreien Städte (Gebietsstand 2019) verringerte sich die Bevölkerung im betrachteten Zeitraum (gegenüber 115 von 325 in Westdeutschland). Die 25 Landkreise und kreisfreien Städte mit den höchsten Bevölkerungsrückgängen liegen alle im Osten der Republik. Sie alle verzeichneten eine Verringerung ihrer Bevölkerung um mehr als 20 %.
Vier von fünf ostdeutschen Landkreisen verzeichneten seit 1995 Bevölkerungsrückgänge. In der Region um Berlin sowie in Dresden, Jena und Leipzig wuchs die Bevölkerung dagegen teils erheblich.
Die Karte zeigt allerdings auch, dass nicht alle Landkreise vom Bevölkerungsrückgang betroffen waren. In der Region um Berlin sowie in den Städten Dresden, Leipzig und entlang der „Städtekette“ in Thüringen wuchs die Bevölkerung insbesondere in der jüngsten Vergangenheit zum Teil rasant. Leipzig und Dresden liegen auf den Plätzen sechs beziehungsweise Platz acht auf der Liste der Landkreise mit den höchsten absoluten Bevölkerungszuwächsen. Vier der zehn Landkreise mit den höchsten Wachstumsraten zwischen 1995 und 2019 liegen in Brandenburg.
Abbildung 1: Demografische Entwicklung Deutschlands auf Kreisebene
Unterschiedliche Entwicklung gab es ebenfalls in den verschiedenen Alterskohorten. Zwischen 1990 und 2019 verringerte sich die Zahl der Personen im Alter unter 15 Jahren um 44 %. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren3 um 21 %. Im Gegensatz dazu stieg die Zahl der Personen im Alter über 65 Jahre um 62 %.
Inzwischen leben deutlich mehr Menschen über 65 Jahren in den neuen Bundesländern als im Jahr 1990. Der Anteil der Personen unter 15 Jahren liegt dagegen heute niedriger als im Jahr der Wiedervereinigung.
Die Folge ist eine deutlich veränderte Altersstruktur der Bevölkerung in den neuen Bundesländern. Im Jahr 1990 war jede fünfte Person in Ostdeutschland jünger als 15 Jahre, im Jahr 2019 dagegen nur noch etwa jede achte Person. Auch der Anteil von Personen im erwerbsfähigen Alter sank im selben Zeitraum. Er verringerte sich von 68 % auf 62 %. Dagegen stieg der Anteil der älteren Personen über 65 Jahre. Er verdoppelte sich nahezu von 13 % auf 25 % – inzwischen hat jede*r vierte Bürger*in in den neuen Bundesländern das Rentenalter erreicht.
Auch bei der Entwicklung der Altersstruktur treten regionale Unterschiede zutage. Karten 1b und 1c zeigen den Altenquotient beziehungsweise den Jugendquotient auf Kreisebene. Die Quotienten geben an, wie hoch die Zahl der jeweiligen Bevölkerungsgruppe im Verhältnis zur erwerbsfähigen Bevölkerung ist (hier im Alter zwischen 20 und 64 Jahren).
Karte 1b verdeutlicht den deutlich höheren Anteil älterer Personen in den neuen Ländern im Vergleich zum westlichen Teil Deutschlands. Bis auf wenige Ausnahmen liegt der Altenquotient in allen Kreisen und kreisfreien Städten in der höchsten Kategorie mit einem Wert von mehr als 43 Personen über 65 Jahren je 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren. In den alten Bundesländern liegt der Wert dagegen nur in sehr wenigen Landkreisen auf diesem Niveau.
Der Rückgang der jüngeren Bevölkerung wird auch bei Betrachtung des Jugendquotienten in Karte 1c deutlich. In vielen Landkreisen und kreisfreien Städten der neuen Bundesländer leben weniger als 29 Personen im Alter unter 20 Jahren je 100 Personen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren. Allerdings variiert der Indikator deutlich stärker als der Altenquotient. Vor allem in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands liegt der Anteil der jüngeren Bevölkerung sehr niedrig. Die Ballungszentren sowie die an sie angrenzenden Landkreise verzeichnen dagegen höhere Werte.
Die natürliche Bevölkerungsbewegung
Die natürliche Bevölkerungsbewegung setzt sich zusammen aus der Zahl der Geburten und der Zahl der Gestorbenen innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Werden mehr Menschen geboren als im selben Zeitraum sterben, spricht man von einem Geburtenüberschuss, im anderen Fall von einem Geburtendefizit.
Alle fünf ostdeutschen Bundesländer verzeichneten über den betrachteten Zeitraum ein Geburtendefizit. Das heißt, in jedem Jahr starben mehr Menschen als, im selben Zeitraum geboren wurden (vgl. Abbildung 2).
Eine ähnliche Entwicklung war auch im Westen Deutschland zu beobachten. Auch im westlichen Teil der Republik überstieg die Zahl der Sterbefälle in fast allen Jahren der letzten Jahrzehnte diejenige der Geburten. Nur in einzelnen Jahren verzeichnete Westdeutschland Geburtenüberschüsse.
In allen ostdeutschen Bundesländern wurden jedes Jahr weniger Menschen geboren als im selben Zeitraum starben. Auch in Westdeutschland ist diese Entwicklung zu beobachten – zuletzt gab 1972 einen Geburtenüberschuss.
Abbildung 2: Geburten und Wanderungen in den neuen Bundesländern
Wanderungsbewegungen von und nach Ostdeutschland
Wanderungsdaten für die ostdeutschen Bundesländer liegen für die Jahre nach 1995 vor. Die Zahlen umfassen sowohl die Wanderung innerhalb Deutschlands als auch die Wanderungsbewegungen mit dem Ausland.
Nach der Wiedervereinigung verließen viele Ostdeutsche ihre Heimat. Seit 2017 ziehen allerdings wieder mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt.
Die ostdeutschen Bundesländer teilen sich dabei in zwei Gruppen auf: eine Gruppe hatte fast über den gesamten Betrachtungszeitraum einen negativen Saldo – dazu zählen Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die zweite Gruppe hatte zumindest am Anfang des Betrachtungszeitraum einen positiven Saldo (Brandenburg, Sachsen). Detaillierte Ergebnisse sind in Abbildung 2 zu sehen.
Darüber hinaus verzeichnen alle Bundesländer im Zeitraum ab etwa 2015 positive Wanderungssalden. Dies geht zum einen auf Zuzüge aus dem Ausland im Zusammenhang mit der ansteigenden Fluchtmigration zurück. Zum anderen spiegeln die Salden bundeslandspezifische Entwicklungen wider: Brandenburg verzeichnet seit einigen Jahren Zuzüge aus Berlin, Sachsen sah Zuzüge in die attraktiven Großstädte Dresden und Leipzig.
Die Gesamtentwicklung über den Betrachtungszeitraum zeigt jedoch, dass die jährliche Bevölkerungsentwicklung fast immer negativ war. Nur Brandenburg konnte vor dem Jahr 2014 Bevölkerungszuwächse verzeichnen. Nach 2015 gab es neben Brandenburg nur in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2017 einen Bevölkerungsgewinn. In allen anderen ostdeutschen Bundesländern dominierte erneut die natürliche Bevölkerungsbewegung die Gesamtentwicklung.
Ein gänzlich anderes Bild ergibt sich beim Blick nach Westdeutschland. Über den gesamten Betrachtungszeitraum zogen mehr Menschen in die westlichen Bundesländer als diese im gleichen Zeitraum verließen. Diese Entwicklungen waren sowohl geprägt vom Zuzug aus dem Ausland als auch von der Binnenwanderung aus den östlichen Bundesländern. Seit 2017 ziehen jedoch wieder mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt.
Ausblick
All diese Entwicklungen wirken sich in vielerlei Hinsicht auf die betroffenen Regionen aus. Sinkende Bevölkerungszahlen und eine alternde Gesellschaft stellen die Systeme der sozialen Sicherung und öffentlichen Daseinsvorsorge vor enorme Herausforderungen, vor allem im ländlichen Raum.
Auf dem Arbeitsmarkt macht sich der demografische Wandel ebenfalls bemerkbar. Die Zahl der älteren Erwerbstätigen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und auch ihr Anteil an allen Erwerbstätigen hat zugenommen. Infolge einer rückläufigen Erwerbsbevölkerung fällt es auch Unternehmen zunehmend schwerer, ihren Fachkräftebedarf zu decken. In einigen Branchen und Regionen bestehen bereits Fachkräfteengpässe. Aus dem „Arbeitgeber-Markt“ der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung ist vielerorts inzwischen ein „Arbeitnehmer*innen“-Markt geworden.
Fußnoten
1 Betrachtet werden ausschließlich die fünf ostdeutschen Flächenländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
2 Brandenburg ist auch unter einem anderen Gesichtspunkt ein Ausnahmefall. Im Jahr 2011 fand die erste Volkszählung in der wiedervereinigten Bundesrepublik statt. Die letzte Volkszählung der DDR wurde 1981 durchgeführt – ihre Ergebnisse wurden bis 2011 fortgeschrieben. In Brandenburg kam es zu deutlichen Korrekturen der amtlichen Registerdaten, die alleine zwischen 2010 und 2011 zu einem Bevölkerungsrückgang von 50.000 Personen führten. Das entspricht 89 % des gesamten Bevölkerungsrückgangs seit der Wiedervereinigung.
3 Die Veränderung des Bildungswahlverhaltens junger Menschen hin zur Aufnahme eines Studiums führt dazu, dass ein größerer Teil später ins Erwerbsleben startet. Auch arbeiten infolge der Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters mehr Menschen auch nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres noch. Allerdings greift die Bundesagentur für Arbeit vielmals auf die genannte Definition zurück. Um eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wird die Definition hier übernommen
Quellen
Brautzsch, Hans-Ulrich (2019) : Aktuelle Trends: Durchschnittsalter der Bevölkerung: Deutliches Ost-West-Gefälle, Wirtschaft im Wandel, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Halle (Saale), Jg. 25(1) , S. 4.
Weiterführende Literatur
- Themenseite „Bevölkerung“ des Statistischen Bundesamtes
- Sonderseite „Demografischer Wandel“ des Statistischen Bundesamtes
- Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung