Wissenspool-Beitrag

Digitale Stifte in der Industrie 4.0

09.01.2023
Lesezeit: ca. 8 min
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Unternehmen: Siemens AG, Corporate Technology

(Betrieblicher) Einsatzbereich: Industrie 4.0, Smart Factories

Einführungszeitraum: 2016

KI-Methode/n: Digitaler Stift, Handschrift-Erkennung, Gestenerkennung, Ontologie, Wissensdatenbank

KI-Partner: Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI)

Gründe für den KI-Einsatz

Maßnahmen zur Instandhaltung von Industrieanlagen sind enorm wichtig: Sie tragen dazu bei, die Betriebskosten deutlich zu senken und die Produktivität des Anlagenbetriebs sowie die Qualität der Produkte zu verbessern. Mit der zunehmenden Automatisierung und Digitalisierung von Anlagen entstehen immer mehr Möglichkeiten für Monitoring und Predictive Maintenance-Anwendungen. Allerdings werden aufgrund der hohen Komplexität der zugrundeliegenden Prozesse und Abläufe die im Umgang mit den Maschinen und Anlagenteilen erfahrensten Mitarbeiter:innen nicht mehr aktiv in den Instandhaltungsprozess eingebunden. Insgesamt ergeben sich einige Defizite auf verschiedenen Ebenen: 

  • Das Wissen und die Expertise von Produktionsmitarbeiter:innen wird nicht mehr effektiv in den Instandhaltungsprozess integriert. 
  • Die Möglichkeiten für das Monitoring von Anlagenkomponenten wachsen und liefern wichtige Erkenntnisse. Allerdings fehlt meistens eine umfassende Sicht auf die Leistung der gesamten Anlage. 
  • Das semantische Wissen über den Aufbau der Anlage und ihre Grundprinzipien werden nicht in die Instandhaltungsprozesse einbezogen. 

Um diese Punkte zu adressieren, wurde im Projekt CPS for Smart Factories eine Architektur für Cyber-physikalische Systeme (CPS) entwickelt, die die nahtlose Integration und Verarbeitung von Expertenwissen mithilfe digitaler Stifte sowie die Modellierung und Ausführung von Produktions- bzw. Maintenance-Workflows mithilfe von BPMN-Modellen ermöglicht. Dabei steht die effektive Integration von Experten und deren Erfahrungen im Mittelpunkt.

Abbildung 1: Architektur für Cyber-physikalische Systeme (CPS) in der Industrie 4.0

Wir beschreiben in diesem Beitrag insbesondere die Rolle von digitalen Stiften im Kontext von Wartungsarbeiten. Unsere Beispielanwendung konzentriert sich auf den Betrieb und die Wartung einer Siemens-Gasturbine (SGT-750). Unser Ziel war die nahtlose Einbindung von Mitarbeitenden in den Wartungsprozess (Human-in-the-Loop), ohne dass diese ihre tägliche Praxis ändern mussten. Wir wollten insbesondere den Prozess rund um die Einreichung und Bearbeitung von Vorfallsberichten mithilfe digitaler Stifte automatisieren.

Abbildung 2: Definition der Formularfelder für die digitale Version eines Papierbogens aus dem Gasturbinen-Anwendungsfall.

Üblicherweise sind Vorfallsberichte analoge Papierformulare, die mit einem Stift ausgefüllt und manuell weiterverarbeitet werden. Das ist eine optimale Voraussetzung für den Einsatz digitaler Stifte. Sie ermöglichen handschriftliche Eingaben auf Papierbögen in Echtzeit zu digitalisieren und automatisiert weiterzuverarbeiten. Zunächst liefern digitale Stifte aber nur eine Reihe von kontextlosen Strichen. Wir haben unsere Technologie eingesetzt, um die handschriftlichen Eingaben im Kontext eines Vorfallsberichts zu analysieren. Unser System ermöglicht die Erstellung von Papierbögen am Computer, ähnlich zu Online-Fragebögen. Stift-basierte Eingaben können anschließend einem bestimmten Feld zugeordnet und entsprechend ausgewertet werden. Zum Beispiel können Nutzer:innen eine Auswahl durch Ankreuzen treffen, einen bestimmten Bereich einer Grafik auswählen oder Freitext-Eingaben tätigen, die umgehend transkribiert werden. Der digitale Bericht wird anschließend in unser CPS-System geleitet und kann dort automatisiert weiterverarbeitet werden. Der gesamte Prozess wird in folgendem Video dargestellt:

Eine Komponente unseres KI-Systems zur Analyse von handschriftlichen Eingaben ist die Gestenerkennung. Dazu werden zunächst Merkmale aus den Rohdaten der Stifteingabe extrahiert und anschließend mittels maschinellen Lernens klassifiziert. Wird z.B. ein Kreis in einem Grafik-Bereich erkannt, wird das als Selektion dieses Bereichs interpretiert. Wie die Klassifizierung von Stiftdaten funktioniert, kann in unserer Online-Demo ausprobiert werden.

Vorteile im Unternehmen durch den KI-Einsatz

Zum Alltag gehören in vielen Betrieben einfache Papierbögen für die Meldung von Vorfällen, was zu langen Bearbeitungs- und damit Reaktionszeiten führt. Außerdem können analoge Berichte nicht für die Analyse von Fehlern und deren Ursachen verwendet werden. Unser System adressiert diese Probleme. Durch Interviews mit Domänenexperten haben sich die folgenden Vorteile davon herausgestellt:  

  • Störungsmeldungen werden sofort digitalisiert und innerhalb weniger Sekunden in die semantische Wissensbasis integriert (Digitalisierung). Das ermöglicht schnellere Bearbeitungszeiten, eine intuitive und übersichtliche Visualisierung, sowie eine effiziente Suche nach Vorfällen mit bestimmten Kriterien (z. B. gefiltert nach Komponente, Zeitpunkt, Art des Vorfalls oder anhand von Schlüsselwörtern in transkribierten Freitexten). 
  • Einfache Anpassung an andere Geschäftsprozesse durch die Standardisierung mittels BPMN. 
  • Geringer erwarteter Aufwand für die Integration von digitalen Stiften, da die Mitarbeiter:innen bereits mit Stift und Papierbögen vertraut sind. 

Interessanterweise wurde die stiftbasierte Anwendung im Vergleich zu Tablet-basierten Anwendungen bevorzugt, da sie in der Arbeitsumgebung leichter zu handhaben und zu nutzen ist. Die Expert:innen erwähnten auch das Potenzial für andere Branchen, wie z.B. die Automobilbranche, die immer noch auf analoge, papierbasierte Berichte setzen.

Dieser Beitrag basiert auf unserem Konferenzbeitrag „Human-in-the-Loop Control Processes in Gas Turbine Maintenance“ bei der HoloMAS 2017.

Autor
Michael Barz

Dieser Beitrag wurde von Michael Barz verfasst. Er ist Researcher im Fachbereich Interaktives Maschinelles Lernen (IML) am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und leitet dort eine Forschungsgruppe zum Thema intelligente multimodale Benutzerschnittstellen.

Michael Barz