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Lern- und Experimentierräume – Ein Ansatz für menschenzentrierte KI-Projekte in KMU

27.04.2022
Lesezeit: ca. 18 min
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Haben Sie sich auch schon gefragt, wie Sie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz für Ihr Unternehmen nutzen können? Viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU) setzen sich bereits mit den Potentialen der Digitalisierung auseinander, um konkurrenzfähig zu bleiben, Kundenanforderungen zu erfüllen oder Beschäftigte zu unterstützen. Zunehmend steht dabei auch das Thema Künstliche Intelligenz im Fokus. Denn mit Künstlicher Intelligenz werden vielfältige Potentiale für die Wettbewerbsfähigkeit, Automatisierung und Assistenz von Beschäftigten verbunden.

Besonders kleine und mittlere Unternehmen stehen vor der Herausforderung, einen Einstieg in die Möglichkeiten der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz zu finden. Wie bei anderen Innovationen auch, ist es empfehlenswert, hierfür Projekte außerhalb der Geschäfts- und Arbeitsroutine durchzuführen. Hierbei sollten die Ziele des Unternehmens, die Anforderungen von Kund:innen und/oder die Bedarfe von Beschäftigten den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bilden. Hierfür sprechen verschiedene Gründe:

  • Jedes Unternehmen ist anders, u. a. in Hinblick auf die betrieblichen Ziele und Strategien, die Struktur und Kompetenzen der Beschäftigten und die Voraussetzungen für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz
  • Digitale und KI-basierte Technologien müssen letztlich einen Beitrag zu den unternehmerischen Zielen, den Anforderungen von Kund:innen und/oder den Bedarfen von Beschäftigten leisten
  • Digitalisierung und vor allem Künstliche Intelligenz sind nur ein Lösungsansatz für die Herausforderungen von Unternehmen neben weiteren, deren Mehrwert im individuellen Einzelfall bewertet werden muss

Lern- und Experimentierräume als Ansatz zur Gestaltung der Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz in Unternehmen

Ein Ansatz zur Durchführung von Projekten im Bereich der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz sind sogenannte Lern- und Experimentierräume (kurz LER). Das Bundesministerium für Arbeit- und Soziales (BMAS) fördert seit 2018 betriebliche LER. Diese können unter anderem wie folgt charakterisiert werden:

  • Problem- und Lösungsorientierung: Unternehmen und ihre Beschäftigten sollen passende Lösungen zu betrieblichen Herausforderungen finden.
  • Geschützter Raum: In einem geschützten Rahmen können Betriebe, Beschäftigte und Sozialpartner in einem gemeinsamen Prozess betriebliche Herausforderungen identifizieren und passgenaue Lösungen entwickeln und erproben
  • Kreativität, Offenheit und Fehlertoleranz: Neben Neugier und Kreativität braucht es einen offenen und vertrauensvollen Austausch sowie die Bereitschaft aller Beteiligten, Fehler zu machen.

Dieser offene Projektansatz eignet sich dafür, die Zukunftsaufgaben Digitalisierung und KI in KMU anzugehen. Denn Digitalisierung und KI sind sowohl betriebliche Herausforderung als auch Problemlösung darstellen können. Sie sind einerseits Herausforderung, vor allem durch eine hohe technische Komplexität und dynamische Entwicklungen. Es sind wenige Standards und Orientierungswissen vorhanden, was zu einer geringen Transparenz über den Markt und die Möglichkeiten digitaler und KI-basierter Technologien und einem hohen Informationsbedarf führt. Gleichzeitig werden mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz Potentiale zur Lösung betrieblicher Herausforderungen verbunden. Mit diesen müssen sich Unternehmen allerdings aktiv auseinandersetzen, um in der Vielfalt technischer Möglichkeiten und in Abhängigkeit der eigenen betrieblichen Realität eigene Lösungswege zu finden.

Menschenzentrierte KI in Unternehmen umsetzen – Einsatz von KI als Assistenz für Beschäftigte

Digitalisierung und KI menschenzentriert zu gestalten, kann eingelöst werden, indem die Bedarfe der Beschäftigten den Ausgangspunkt von KI-Projekten bilden und davon ausgehend KI-Technologien und Anwendungsgebiete zur Assistenz von Beschäftigten identifiziert werden. Ein solcher, auch für KMU übertragbarer Ansatz ist im Projekt KI.ASSIST entstanden, in dem KI-gestützte Assistenztechnologien für Beschäftigte mit verschiedenen Behinderungen erprobt wurden.

Das folgende Vorgehen wurde im Projekt KI.ASSIST entwickelt und erprobt und kann bei KI-Projekten als Orientierungspunkt dienen. Dabei können die Reihenfolge, der Umfang und auch die eingesetzten Methoden der beschriebenen Phasen variieren. Da es sich bei Projekten im Bereich der Digitalisierung voraussetzungsvolle Vorhaben handeln kann, ist es ratsam an verschiedenen Stellen im Prozess externe Partner einzubeziehen.

Bedarfsermittlung

Am Anfang menschenzentrierter KI in Unternehmen sollten neben den betrieblichen Zielen und den Anforderungen von Kund:innen vor allem auch die Bedarfe der Beschäftigten stehen. Nur so können digitale und KI-basierte Technologien identifiziert werden, die eine wirklichen Nutzen für den Betrieb darstellen – eine Grundvoraussetzung für das Gelingen von KI-Projekten und einem langfristigen Einsatz von KI. Dieses Vorgehen ist nicht technikzentriert, sondern personenzentriert. Es fragt nicht danach, welche KI-Technologien es auf dem Markt gibt und wie diese für das Unternehmen genutzt werden können, sondern danach welche Herausforderungen es im Betrieb zu lösen gilt und ob und wie KI-Technologien zu deren Lösungen beitragen können. Es ermöglicht Betrieben, die allseits proklamierten Potentiale von KI für das eigene Unternehmen kritisch zu prüfen und ein gutes Erwartungsmanagement von Beginn an zu etablieren. Es wird auch der Tatsache gerecht, dass digitale und KI-basierte Technologien eine mögliche Lösung neben anderen sind.

Die Ziele des Betriebs, die Anforderungen der Kund:innen und Bedarfe der Beschäftigten sind in Betrieben mehr oder weniger gut dokumentiert, oftmals aber bereits bekannt. Neben persönlichen und schriftlichen Befragungen oder Workshops können auch innovativere Methoden wie beispielsweise Design Thinking zur Ermittlung der Bedarfe zum Einsatz kommen. Die ermittelten Bedarfe sind auch hilfreich für die Kontaktaufnahme mit den regionalen Zukunftszentren, die Betriebe zu den Themen Digitalisierung und KI beraten. Gleichzeitig unterstützen die regionalen Zukunftszentren Betriebe bei der Bedarfsermittlung.

Potentialeinschätzung und Technologieauswahl

Erst in einem zweiten Schritt sollten digitale und KI-basierte Technologien als eine Möglichkeit zur Lösung der identifizierten Herausforderungen in Betracht gezogen werden. In diesem Schritt es wichtig, die Potentiale und Grenzen verschiedener digitaler und KI-basierter Technologien zu kennen und realistisch einschätzen zu können. Diese Aufgabe stellt aufgrund der großen Dynamik der technologischen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung und KI für alle Unternehmen eine große Herausforderung dar, kann aber insbesondere kleinen und mittlere Unternehmen als unlösbare Aufgabe erscheinen. Wie so oft gilt auch hier: Zur Bewältigung dieser Aufgabe sind mehrere Wege zielführend, die sich idealerweise ergänzen:

  • die Etablierung einer verantwortlichen Person mit entsprechenden Kompetenzen im eigenen Betrieb,
  • der Aufbau und die Nutzung von Netzwerken mit anderen Unternehmen der eigenen Branche sowie mit KI-Forschenden und Technologie-Anbieter:innen und
  • die Nutzung von Informationsangeboten (z. B. KI Wissens- und Weiterbildungszentrum, die Plattform Lernende System),
  • von Technologie-Datenbanken (z. B. Monitoring des Projekts KI.ASSIST)
  • von Beratungsangeboten (z. B. der regionalen Zukunftszentren) und
  • von Informations- und Vernetzungsveranstaltungen (z. B. Technologie-Messen, Konferenzen, Webinare von Technologie-Anbietern).
  • Besonders vielversprechend ist die Identifikation von und Information über Standardprodukte im Bereich der Digitalisierung und KI (z. B. Predictive Maintenance, Sprachassistenz) und individuellen Anwendungsbeispielen aus anderen Unternehmen.

Wenn geeignete digitale und KI-basierte Lösungen identifiziert werden konnten, ist der Kontakt zu Technologie-Anbieter:innen wichtig, unter anderem um die Machbarkeit der angebotenen Technologie im eigenen Betrieb zu prüfen. Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen kann KI as a service lohnenswert sein, da hier KI-Technologien ohne eigene KI-Infrastruktur eingesetzt werden können.

Konzeptentwicklung: Anwendungsfälle und Einsatzszenarien

Ist die Entscheidung für eine digitale oder KI-basierte Technologie gefallen, geht es in einem nächsten Schritt darum, Ideen zu deren Erprobung und Einsatz im Betrieb zu entwickeln. Dafür sind verschiedene, zusammenhängende Fragen zu klären:

  • Für welche Aufgaben bzw. Prozesse soll die Technologie zum Einsatz kommen?
  • Welche Personen oder Personengruppen interagieren in welcher Weise mit der Technologie?
  • In welchen Teams oder Abteilungen wird die Technologie eingesetzt?
  • Welche Funktionen werden benötigt?
  • In welchen Zeiträumen, wie oft und wie lange soll die Technologie eingesetzt werden?
  • In welcher Weise sind Datenschutz- und weitere rechtliche Bestimmungen unseres Betriebs durch den Einsatz der Technologie betroffen? Wie ist der KI-Einsatz entsprechend anzupassen?
  • Wie kann ein niedrigschwelliger Pilottest (z. B. mit einer kleinen Personengruppe und eingeschränkten Funktionalitäten) aussehen?

Die Klärung dieser Fragen sollte partizipativ mit den Beschäftigten bzw. den Sozialpartnern beispielsweise in einem Workshop-Setting erfolgen, um das Erfahrungswissen der Beschäftigten in den Prozess einfließen zu lassen und Akzeptanz auf allen Seiten sicherzustellen. Außerdem sollte der Technologie-Anbieter:innen einbezogen werden, um Fragen der technischen Machbarkeit bzw. notwendiger Anpassungen zu klären.

Vorbereitung & Pilotierung des KI-Einsatzes

Wenn die Ideenentwicklung und Planung des KI-Einsatzes abgeschlossen sind, sind diverse vorbereitende Aktivitäten durchzuführen. Dazu zählen unter anderem:

  • Erwerb der Technologie: Hierzu zählen u. a. der Erwerb der Software und ggf. von Hardware, die Entscheidung für Anzahl und Umfang von Leistungen von Technologie-Anbieter:innen (z. B. Anzahl von Nutzungs-Lizenzen) sowie vertragliche Regelungen (u. a. Kaufvertrag, Nutzungsvereinbarung, Non Disclosure Agreement)
  • Technische Integration und Anpassungen: Hierzu zählt unter anderem die Installation von Software, ggf. die Integration von Hardware, die Anbindung an Schnittstellen in der bestehenden technischen Infrastruktur, ggf. die Erstellung von Inhalten und die Aufbereitung von betrieblichen, digitalen Daten für den KI-Einsatz
  • Organisatorische Vorbereitungen: Hierzu zählen unter anderem die Gewinnung von Teilnehmer:innen für den Pilottest, die Vorbereitung von Testräumen, ggf. die Anpassung von Prozessen und der Arbeitsorganisation beim KI-Einsatz
  • Allgemeine und Technologie-spezifische Schulungen: Vor allem die für den KI-Einsatz verantwortlichen Personen sowie betroffene Beschäftigte und Sozialpartner sollten in Hinblick auf KI allgemein und die ausgewählte Technologie weitergebildet werden
  • Datenschutzrechtliche Bestimmungen: In Abhängigkeit der Technologie sind Beschäftigte über den KI-Einsatz zu informieren bzw. müssen diesem zustimmen.

Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen und aufwendigen Vorbereitungen ist es empfehlenswert mit kleineren Pilottests mit Technologie-Anbieter:innen, Beschäftigten und Sozialpartnern zu starten. So können Ressourcen gespart und frühzeitig Herausforderungen identifiziert sowie Entscheidungen unter anderem zu Anpassungen des KI-Einsatzes getroffen werden.

Erprobung

Nach einem erkenntnisreichen und erfolgreichen Pilottest ist es empfehlenswert, die Erprobung der KI-Technologie auszuweiten auf weitere teilnehmende Personen, Teams oder Abteilungen sowie in Hinblick auf weitere Funktionalitäten. Für den Erprobungsprozess ist es wichtig, den beteiligten Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, ihr Feedback einzubringen und entsprechende Anpassungen am KI-Einsatz vorzunehmen. Abschließend sollte mit dem Ziel einer Entscheidung für oder gegen den langfristigen Einsatz der KI-Technologie im Betrieb eine finale Bewertung erfolgen. Diese kann folgende Punkte umfassen:

  • Aus der Sicht des Betriebs ist vor allem eine Wirtschaftlichkeits- (=Kosten-Nutzen-Bewertung) und Machbarkeitsanalyse (=eigenständige Umsetzbarkeit im Betrieb) durchzuführen
  • Aus der Sicht der Beschäftigten bzw. der Sozialpartner ist vor allem eine ethische Bewertung (u. a. in Hinblick auf Autonomie, Privatsphäre und Sicherheit) und Gefährdungsbeurteilung von Bedeutung

Verstetigung

Ist eine Entscheidung für den langfristigen Einsatz der KI-Technologie im Betrieb gefallen, ist eine Skalierung des KI-Einsatzes im Betrieb ein denkbar wünschenswertes Ziel, um den Nutzen des KI-Einsatzes zu maximieren. Hierfür kann es hilfreich und notwendig sein, entsprechende betriebliche Vereinbarungen mit den Sozialpartnern abzuschließen. Darüber hinaus sollten Vereinbarungen zum technischen Support mit den Technologie-Anbieter:innen abgeschlossen werden, um langfristige Unterstützung beim KI-Einsatz zu erhalten.

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz als unternehmerische Aufgabe

Der beschriebene Prozess für KI-Projekte verdeutlicht, dass mit dem KI-Einsatz vielfältige Aktivitäten und Voraussetzungen verbunden sind. Daher ist es ratsam über einzelne KI-Projekte hinaus langfristig die Voraussetzungen für den KI-Einsatz im Unternehmen zu schaffen. Neben der Durchführung von KI-Projekten zählen hierfür vor allem:

  • Die Entwicklung einer betrieblichen Strategie zur Digitalisierung und für KI
  • Die Etablierung von Promotor:innen, also Personen, Teams oder Abteilungen, für die Digitalisierung und KI im Betrieb
  • Die Information über aktuelle technische Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz
  • Die Entwicklung von digitalen Kompetenzen bei Verantwortlichen, Beschäftigten und Sozialpartnern
  • Die Gewinnung externer Partner (z. B. Forscher:innen, Technologie-Anbieter:innen, Berater:innen) für die digitale Transformation und KI im Betrieb
  • Die Sicherstellung zeitlicher und personeller Ressourcen für KI-Projekte und die digitale Transformation

Weiterführende Informationen

Detailliertere Informationen zur Umsetzung von Lern- und Experimentierräumen finden Sie auf der KI.ASSIST-Homepage und im KI.ASSIST-Ergebnisbericht zu Lern- und Experimentierräumen: Thieke-Beneke, M., Stock, J., Lippa, B., Biedermann, J., Stähler, L. & Feichtenbeiner, R. (2022). Die KI.ASSIST Lern- und Experimentierräume zur Erprobung KI-gestützter Assistenztechnologien. Von der Konzeption bis zur Umsetzung. Ergebnisbericht des Projekts KI.ASSIST. Bundesverband Deutscher Berufsförderungswerke e. V.

Autor
Rolf Feichtenbeiner

Dieser Beitrag wurde von Rolf Feichtenbeiner verfasst. Er ist Researcher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und hat sich im Projekt KI.ASSIST mit der Erprobung und Einführung von KI-gestützten Assistenztechnologien in Rehabilitationseinrichtungen und Unternehmen beschäftigt.

Rolf Feichtenbeiner