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Wie aus KI-Forschung marktreife Produkte werden – ein Bericht am Beispiel des Projekts Cocomore

25.12.2022
Lesezeit: ca. 10 min
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Unternehmen: Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V. (DMSG)

Unternehmensgröße: 276 Mitarbeiter:innen und 3.834 Ehrenamtliche1 

Einsatzbereich: Social Network

Einführungszeitraum: von 2015 bis 2017

KI-Methoden: Information Retrieval (Informationsrückgewinnung), KNN  (Künstliches Neuronales Netz), Profile Matching in Social Networks

KI-Partner: Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI)

Gründe für den KI-Einsatz

KI unterstützt Menschen mit Multiple Sklerose (MS) dabei, sich über die Kennenlern-Plattform „MS Connect“ mit anderen Betroffenen zu verbinden und in einem geschützten Raum auszutauschen.

Bisherige Selbsthilfegruppen sind für viele MS-Betroffene nicht attraktiv, da sie zeitlich und örtlich eine zu starre Struktur aufweisen und die Betroffenen meist wenig Einfluss auf die Auswahl der Mitglieder haben. MS-erkrankte Personen, die sich in ähnlicher medizinischer und beruflicher Lage befinden, können sich über herkömmliche Selbsthilfegruppen kaum zielgenau identifizieren. Etablierte soziale Netzwerke wie Facebook, Xing oder LinkedIn sind für die Betroffenen ebenfalls keine attraktive Alternative. Die Gründe hierfür liegen im Anonymitätswunsch und im mangelnden Vertrauen hinsichtlich des Umgangs der kommerziellen Betreiber etablierter Netzwerke mit persönlichen Nutzerdaten2.

Um MS-Erkrankten und ihren Angehörigen die Möglichkeit zu bieten, sich in einem geschützten Rahmen gezielt miteinander zu vernetzen, hat der Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) – Landesverband Hessen3 2015 daher die Initiative zur Entwicklung einer verbandsinternen Online-Plattform gestartet und vorangetrieben.

Beschreibung der Anwendung

Das soziale Netzwerk „MS Connect“ soll MS-Erkrankten ermöglichen, sich zunächst anonym kennenzulernen, miteinander regional und überregional zu vernetzen und auf Wunsch später auch privat auszutauschen. Auf der digitalen MS-Connect-Plattform bestimmen die Nutzer:innen, wie sie sich über welche Themen mit anderen Betroffenen austauschen und wie viel an privater Information sie dabei von sich preisgeben4.

Hierfür hat das DFKI zusammen mit der Agentur für Marketing, IT und Experience Design Cocomore AG5 und der DMSG eine Online-Plattform und KI-Lösung entwickelt, die verschiedene Bekanntheitsstufen für Nutzer:innen ermöglicht. Bei der Gestaltung der Plattform wurde großer Wert auf eine intuitive Bedienbarkeit gelegt. Nutzer:innen können detailliert entscheiden, mit welchen anderen Personen und Nutzergruppen sie welche Informationen teilen.

Bei der Registrierung wird ein Nutzerprofil angelegt, das Information zu persönlichen Interessen, Aktivitäten und Hobbies beinhaltet, bis hin zu detaillierten Angaben über Krankheit, Krankheitsverlauf, Behandlungen und Symptome.  Die Angaben sind freiwillig und können über verschiedene Sichtbarkeitsstufen geschützt werden. Zunächst können sich die Nutzer:innen anonym untereinander austauschen, ohne dabei persönliche Information von sich freizugeben. Nach Wunsch können stufenweise weitere Informationen mit anderen Nutzer:innen geteilt werden. MS Connect verfügt insgesamt über vier Bekanntheitsstufen: alle Mitglieder, einfacher Kontakt, guter Bekannter, Freund. Für jedes Profilfeld kann eingestellt werden, wer welche Information sehen darf. Zudem können sich die Nutzer:innen innerhalb der Plattform über geographische Nähe, gemeinschaftliche Interessen, ähnliche Krankheitsbilder und Behandlungsmethoden oder andere Suchkriterien zusammenfinden2.

Mit der MS-Connect-Plattform hat das DFKI in Zusammenarbeit mit Cocomore und der DMSG ein sehr erfolgreiches Industrieprojekt im Bereich Data Privacy durchgeführt, aus dem ein Produkt entstanden ist, das heute vielen MS-Betroffenen einen großen Nutzen bringt.

Vorteile im Unternehmen durch den KI-Einsatz

Da in „MS Connect“ Privatsphäre und Datenschutz eine große Bedeutung zugeschrieben wird, ermöglicht die Plattform zugleich Vernetzung und Anonymität. Nutzer:innen können Teil von Gruppen und Events werden und sich darüber mit anderen eingeladenen Mitgliedern in einem geschützten, nicht öffentlichen Rahmen austauschen4

Über die Nutzerprofile wird ein zielgerichtetes und den Nutzerbedürfnissen entsprechendes Auffinden und Kennenlernen anderer Nutzer:innen ermöglicht. Die Anbahnung von direkten Kontakten berücksichtigt zwei wesentliche Bedingungen:  

  • Bei einer Kontaktaufnahmekann maximale Anonymität gewährleistet werden, die durch die Nutzer:innen anschließend graduell reduziert werden kann.  
  • Es ist permanent sichergestellt, dass Nutzer:innen von MS Connect ausschließlich MS-Betroffene und deren Angehörige sind. Dies wird durch die Moderatoren der Plattform manuell verifiziert2.

Herausforderungen

  • Datenschutz als wesentliches Plattform Element

Wie wurde im Unternehmen Akzeptanz für den KI-Einsatz geschaffen?

Da DMSG-Mitglieder selbst die Online-Plattform als Testnutzer:innen über einen längeren Zeitraum umfassend geprüft und Verbesserungsvorschläge geliefert haben, die entsprechend umgesetzt wurden, konnte das digitale Angebot optimal auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten werden. Mit „MS Connect“ hat die DMSG eine innovative, moderne soziale Online-Plattform zur Kommunikation für MS-Betroffene ins Leben gerufen4.

Video

Quellenverzeichnis

1. Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V., Geschäftsbericht 2020, MITEINANDER STARK, STÄRKER ALS MULTIPLE SKLEROSE, DIE DEUTSCHE MULTIPLE SKLEROSE GESELLSCHAFT HILFT [Stand 11.10.2022] 

2. Freyberg, Hans-Ulrich von, Schröter, Martin, Schmeier, Sven and Burchardt, Aljoscha. “MS Connect – Eine spezielle Online-Plattform zur Vernetzung von MS-Erkrankten“. IT für soziale Inklusion: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Zukunft für alle, edited by Aljoscha Burchardt and Hans Uszkoreit, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2018, pp. 29-32.

3. Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft – Landesverband Hessen, 2022, [Stand 11.10.2022] 

4. DMSG Schleswig-Holstein e.V., dmgs Connect,  „MS Connect“MS CONNECT: geschützte Kennenlern-Plattform verbindet Menschen mit MS, 2018, URL: https://dmsg-sh.de/angebote/ms-connect/ [Stand 11.10.2022] 

5. Cocomore AG, 2022, [Stand 11.10.2022]

Autor
Dr. Aljoscha Burchardt

Dr. Aljoscha Burchardt ist Principal Researcher und stellvertretender Standort­sprecher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin. Er ist Experte für Sprach­techno­logie und Künstliche Intelligenz. Burchardt ist Senior Research Fellow des Weizenbaum-Institutes für die vernetzte Gesellschaft und stell­ver­tre­ten­der Vorsitzender der Berliner Wissenschaftlichen Ge­sell­schaft. Außerdem war er als Sachverständiger Mitglied der Enquete-Kommission “Künstliche Intelligenz” des Deutschen Bundestages.

Dr. Aljoscha Burchardt
Autorin
Charlene Röhl

Seit Oktober 2020 arbeitet Charlene Röhl als Researcherin im Forschungsbereich Speech and Language Technology (SLT) unter der Leitung von Sebastian Möller, am DFKI Berlin. In ihrer Position als Researcherin und Projektmanagerin im Projekt Evalitech forschte Charlene an der Entwicklung einer innovationsorientierten Evaluationsmetrik für den Bereich Industrie 4.0 auf Basis von Methoden Künstlicher Intelligenz, wie z. B. Information Retrieval und Informationsextraktion.

Charlene Röhl
Autor
Dr. Sven Schmeier

Dr. Sven Schmeier ist Chefingenieur und stellvertretender Leiter des Speech & Language Technology Lab des DFKI. Er hat mehr als 30 nationale und internationale Projekte in Forschung und Industrie erfolgreich geleitet. Sven war und ist in der Gründungsphase von High-Tech-Unternehmen und Spin Offs des DFKI aktiv.

Dr. Sven Schmeier