Wissenspool-Beitrag

Die grüne Zukunft braucht eine proaktive Kompetenzvermittlung

29.04.2022
Lesezeit: ca. 38 min


Die Wasserstoffpläne auf Bundes- und europäischer Ebene zeigen zwar neben technologiespezifischen Perspektiven auch übergeordnete energie-, klima- und industriepolitische Ziele auf. Arbeitsmarktstrategische Aspekte, insbesondere hinsichtlich Berufsfeldern, Kompetenzerwerb, Qualifizierungsanforderungen sowie Aus-und Weiterbildung finden jedoch kaum Berücksichtigung. Der Schwerpunkt dieses Beitrages soll deshalb auf den Fachkräftebedarfen und Kompetenzen “von morgen” liegen, denn Wasserstoff ist auch ein Bildungsthema. Dazu werden verschiedene themenspezifische Projekte, Netzwerke und Initiativen im sächsischen Raum analysiert und Schlussfolgerungen für die künftigen Kompetenzprofile sowie Qualifikationsanforderungen für Tätigkeiten und Berufe in der Wasserstoffindustrie gezogen.

Einleitung

„Mit der Verabschiedung der Nationalen Wasserstoffstrategie (NWS) hat die Bundesregierung am 10. Juni 2020 den Nationalen Wasserstoffrat (NWR) berufen. Dieser besteht aus 26 hochrangigen Expert*innen der Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft“ (vgl. „Wasserstoff-Aktionsplan Deutschland 2021 – 2025“). Zusammen mit der neuen Internetpräsenz der NWS wurde ab März 2022 bei der Förderberatung „Forschung und Innovation“ des Bundes auch die „Lotsenstelle Wasserstoff“ eingerichtet. „Der spezifische Service bietet gezielte Beratung zur Förderung von Innovationen und Investitionen im Wasserstoffbereich“.

Aus aktuellem Anlass wurde das Thema „Grüner Wasserstoff“ zudem auch staatenübergreifend für ein klimaneutrales Europa und als Schlüsselbaustein für eine zukunftsfähige Energieversorgung auf die Tagesordnung gesetzt, „die uns aus der Energieabhängigkeit von Russland lösen soll.“ Auf Initiative der Bundesregierung haben dazu im März 2022 die Experten aus ganz Europa gemeinsam die vordringlichsten Forschungsfragen zu Grünem Wasserstoff auf europäischer Ebene identifiziert und in einer Strategischen Forschungs- und Innovationsagenda (Strategic Research and Innovation Agenda, SRIA) zusammengefasst (vgl. Pressemitteilung des BMBF vom 18.3.2022).

Mit diesem Artikel soll die ZdA-Beitragsreihe zum „Grünen Wasserstoff“fortgesetzt und im Hinblick auf den Strukturwandel am Beispiel der Region Sachsen untersucht werden, denn „Sachsen will Wasserstoffland Nr. 1 werden“, so der Sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig zur Auswahl fünf sächsischer Vorhaben für das EU-Wasserstoffprojekt „IPCEI Wasserstoff“. Das IPCEI (Important Project of Common European Interest) ist eines der größten europäischen Förderprojekte, von denen das Bundeswirtschafts- und das Bundesverkehrsministerium für Deutschland 62 Wasserstoff-Großprojekte ausgewählt haben.

Der Freistaat Sachsen wurde deshalb in den Fokus gerückt, weil hier innerhalb der zu betrachtenden ostdeutschen Bundesländer die meisten Initiativen und Netzwerke zur Wasserstoffökonomie vertreten sind und hier alle betreffenden Sektoren – Elektrizität, Verkehr, Wärmeversorgung, Industrie und Logistik – bedient werden.

Sächsische Wasserstoffstrategie zeigt Potenziale auf

Mit Blick auf die unterschiedlichen Wasserstoffstrategien in Deutschland wird deutlich, dass in den Bundesländern gegenwärtig verschiedenartige Entwicklungen und Ausrichtungen zu Vorgehensweisen und Aktivitäten statt zur Umsetzung der Nationalen Wasserstoffstrategie stattfinden. Diese reichen von Projekten und Initiativen über Potenzial- oder Machbarkeitsstudien bis hin zu Vorhaben und Roadmaps zum Aufbau einer (regionalen) Wasserstoffwirtschaft. Die nachfolgende Abbildung des Fraunhofer ISI (Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung) gibt einen Überblick über das bestehende Spektrum der landesspezifischen Wasserstoffprojekte (Stand: November 2021).

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Nach Dr. Henning Döscher vom Fraunhofer ISIsind zusätzlich zu den länderspezifischen Strategie- und Roadmap-Prozessen auch bundeslandübergreifende Aktivitäten festzustellen. Als Beispiele führt er das auf Strukturwandel und Kohleausstieg in Ostdeutschland fokussierte „Eckpunktepapier der ostdeutschen Kohleländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen zur Entwicklung einer regionalen Wasserstoffwirtschaft und die Norddeutsche Wasserstoffstrategie (Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen)“ an, das auf spezifische Alleinstellungsmerkmale und Standortfaktoren der Regionen orientiert. In Brandenburg, Hessen, Sachsen-Anhalt, Thüringen sowie im Saarland wurden 2021 landesspezifische Wasserstoffstrategien erarbeitet.

Dies war auch für die Sächsische Wasserstoffstrategie vorgesehen und wurde am 18.01.2022 von Sachsens Kabinett entsprechend beschlossen. Der Sächsische Wirtschaftsminister kündigt in diesem Zusammenhang an, dass bis 2030 in Sachsen 4.800 originäre Arbeitsplätze in der Wasserstoffwirtschaft entstehen sollen (vgl. Freie Presse vom 18.1.2022, S.6).

Mit den politischen Veränderungen vor nunmehr 30 Jahren sind die ostdeutschen Länder flächendeckend von einem wirtschaftlichen Strukturentwicklungsprozess betroffen, der bezüglich der Wirtschaftskraft an das westdeutsche Niveau großen Aufholbedarf hat. Diese Prozesse werden auch im Abschlussbericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie berücksichtigt und zudem aufgezeigt, dass (auch weiterhin) deutliche Differenzen bei der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb Deutschlands bestehen.

Nach den Ergebnissen des Berichtes wird sich, insbesondere in den ostdeutschen Braunkohlerevieren, die Zahl der dort lebenden Beschäftigten in den nächsten beiden Jahrzehnten weiter verringern. Erschwerend kommt hinzu, dass hier auch eine deutliche Alterung der Gesellschaft stattfinden wird. Diese Entwicklungen haben kritische Folgen für die Wirtschaftsentwicklung, die Innovationskraft sowie das Steueraufkommen in den bereits jetzt strukturschwachen Kohlerevieren haben.

Die Landesregierung sieht bei den Perspektiven der Wasserstofftechnologie eindeutige sächsische Standortvorteile durch die Fahrzeughersteller, die Maschinen- und Anlagenbaubetriebe, eine breite KMU-Basis, verkehrsinfrastrukturelle sowie geografische Lagen, die Verfügbarkeit von Gewerbeflächen, die Vernetzung und Energieinfrastruktur, die Fördermittellandschaft sowie durch die Wissenschafts- und Forschungsstandorte gegeben.

Aktuell sind in Sachsen über 100 Wasserstoff-Akteure aus den verschiedensten Bereichen angesiedelt. Wie die vom Sächsischen Staatsministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft (SMEKUL) herausgegebene Landkarte auf Seite 16 zeigt, sind die ca. 30 Arbeits- und Forschungsgruppen an Universitäten, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen im gesamten Freistaat Sachsen verteilt.

Obwohl die Akteurslandschaft zur Wasserstoffökonomie gut aufgestellt ist, sind noch Lücken und Potenziale in der Umsetzungskette Forschung/Entwicklung → Produkte/Technologien → Anwendung/Nutzung sichtbar. Die gesellschaftlichen, insbesondere die beschäftigungsrelevanten Aspekte finden gegenwärtig nur marginale Berücksichtigung.

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Sachsen setzt bei seinen Zielen zur Struktur- und Standortentwicklung auf Alleinstellungsmerkmale und die Eröffnung neuer Chancen, um die Wirtschaft so auf ihrem Transformationsprozess in eine moderne, zukunftsfähige Energieregion zu begleiten. Bereits jetzt steht fest, dass diese Prozesse mit einschneidenden Veränderungen im Energiebereich, aber auch in Wirtschaft und Gesellschaft, vor allem für die Beschäftigten, einhergehen werden. Jede Akzeptanzbetrachtung zeigt, dass eine frühzeitige Einbeziehung und Partizipation der Beteiligten existenziell für die Nutzungs- und Anpassungsbereitschaft des Menschen als Verbraucher und Fachkraft der neuen Technologie sind.

Die Beschäftigten in den Unternehmen jeder Größe werden sich mit neuen Anforderungen an ihre Kompetenzen konfrontiert sehen. Diese sollen in den folgenden Abschnitten näher untersucht und der Fokus dabei auf die dokumentierten Maßnahmen zur Fachkräftesicherung gelegt werden.

Stand zur Fachkräftesicherung in der Sächsischen Wasserstoffindustrie

Nach der Sächsischen Wasserstoffstrategie tragen die wissenschaftlichen Akteure in Sachsen auch zur Aus- und Weiterbildung von Fachkräften bei. Insbesondere an den großen Hochschulstandorten Dresden, Leipzig, Chemnitz und Freiberg wird auf die zahlreichen Professuren, die sich mit Wasserstoffthemen in verschiedenen Anwendungsfeldern beschäftigen und Fachkräfte ausbilden, hingewiesen.

Des Weiteren findet über die Sächsischen Netzwerke ENERGY SAXONY e. V., HZwo e. V. und HYPOS e. V. eine Vernetzung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft statt, die die Bildung und Weiterbildung von Fachkräften befördern sollen. Im Folgenden werden die genannten Netzwerke, insbesondere hinsichtlich identifizierter Berufsfelder, formulierter Qualifizierungsbedarfe sowie der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften untersucht.

HZwo e.V.

Das Branchennetzwerk HZwo bezeichnet sich als Kompetenzstelle zum „Sächsischen Innovationscluster für Brennstoffzellen und Wasserstoff“ und betreut ein umfassendes Wertschöpfungsnetzwerk im Freistaat. 

In seiner „Wasserstoffstudie für Sachsen“ vom April 2021 werden die Bereiche energetische und Produktwertschöpfung, Marktentwicklungen im Wasserstoffsegment im globalen, europäischen, deutschen und sächsischen Raum betrachtet sowie Potenziale auf energetischer, Produkt- und Umsatzebene und diesbezüglicher Entwicklungs- und Arbeitsplatzchancen aufgezeigt. 

Lt. der Studie wird bis 2030 ein Beschäftigungspotenzial von insgesamt 4.831 Arbeitsplätzen prognostiziert. Mit Blick auf das Jahr 2050 werden die Erwartungen des Hydrogen Council bei ca. 23.000 Arbeitsplätzen in der Wasserstoff- und Brennstoffzellenwirtschaft für Gesamt-Sachsen liegen.

Trotz der enormen Arbeitskräftpotenziale und Entwicklungschancen wird auch bei den Handlungsempfehlungen in der Studie die Thematik Fachkräftesicherung nur marginal behandelt, obwohl sie ein zentrales Thema sein sollte. Eine von elf Empfehlungen konzentriert sich auf diesen Bereich, nämlich „Aus- und Weiterbildungsangebote schaffen“. Dazu werden vornehmlich die auf die Schwerpunkte „Wasserstoff“ und „Brennstoffzelle“ ausgerichteten Studiengänge an den Technischen Universitäten und Hochschulen der Angewandte Wissenschaften des Freistaates angeführt.

ENERGY SAXONY

ENERGY SAXONY ist ein wirtschaftsorientiertes Netzwerk, das darauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit und die Exportstärke der Unternehmen der sächsischen Energiebranche auszubauen, die Leistungsfähigkeit der Forschung im Bereich Energie weiter zu stärken sowie das zukünftige Energiesystem mitzugestalten.

In seinem Arbeitskreis „Wasserstoff in Industrie und Gewerbe“ befasst sich das Netzwerk mit den technologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Wasserstoff auf stoffliche und energetische Prozesse. Dazu werden entsprechende Fragestellungen identifiziert, Lösungswege und Synergien aufgezeigt sowie entsprechende Effekte erörtert. Bei seinen Kompetenzen zielt der Arbeitskreis ausschließlich auf technisch-technologische Faktoren zur Herstellung, Speicherung und Transport von Wasserstoff ab. Vorhaben und Strategien zur Qualifizierung und Fachkräfteentwicklung sind auch im Kontext der vielfältigen Projektverbünde und Partnerschaften mit renommierten Instituten, Hochschulen und Universitäten kaum erkennbar.

HYPOS e.V.

Das Wasserstoffnetzwerk HYPOS ist in Mitteldeutschland angesiedelt. Die Region weist in dieser Kombination in Deutschland einzigartige Merkmale auf, für die beste Voraussetzungen zur Umsetzung einer Grünen Wasserstoffwirtschaft gegeben sind: Potenziale für die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien, Infrastrukturen rund um das Mitteldeutsche Chemiedreieck und die an der A9 entlanglaufende 150 Kilometer lange und damit zweitlängste Wasserstoffpipeline Deutschlands.

Nach dem erarbeiteten Strategiepapier konzentriert sich HYPOS in seinen Projekten auf die Erarbeitung eines technologischen Vorlaufes für die wirtschaftliche Umsetzbarkeit sowie auf kostengünstige Anwendungen unter Einbeziehung vorhandener Technik und Technologien, die nicht umfassend zu ersetzen, sondern zu ergänzen sind.

Von den 29 Projekten nehmen zwei einen Bezug auf die soziale Komponente zur nachhaltigen Einführung, zur breiten Nutzung und erfolgreichen Entwicklung von Wasserstoff-Lösungen. Das Projekt „H2-Chancendialog“ untersucht z.B. die Akzeptanzbedingungen von Wasserstoff-Technologien und plädiert für einen frühen Einbezug der Gesellschaft bei der Gestaltung partizipativer Innovationsprozesse.

Beispielhaft und einmalig in Deutschland ist das Projekt „Hypos macht Schule“ einzuordnen. In Zusammenarbeit mit Leipziger Gymnasien entwickelt HYPOS Projekttage, um mit Schüler*innen der 8. bis 10. Klassen das Thema „Grüner Wasserstoff“ gemeinsam zu erschließen. In interaktiven Workshops, Exkursionen und Expertengesprächen erhalten die Schüler*innen die Möglichkeit, Potenziale von Grünem Wasserstoff als Energieträger der Zukunft zu erarbeiten und „sich mit den vielfältigen Berufsbildern in der erneuerbaren Energie- und Wasserstoffbranche vertraut zu machen“. Leider wurden in den Veröffentlichungen der Projektberichte keine konkreten Angaben zu diesen Berufsfeldern gemacht.

Außerdem ist hervorzuheben, dass bei HYPOS mit dem 19. März 2022 ein Bildungsanbieter als Partner in das Netzwerk aufgenommen wurde. Damit wird die Strategie verfolgt, vorhandenes Know-how direkt von den wissensbildenden Einrichtungen in die Anwendung zu transferieren, neue Technologien möglichst auch mit neuen Lernmethoden zu verknüpfen und innovative und nachhaltige Qualifikationen anzubieten.

Insgesamt kann zu drei untersuchten Netzwerken ENERGY SAXONY e. V., HZwo e. V. und HYPOS e. V. festgestelltwerden, dass diese in Bezug auf die Fachkräfteentwicklung noch Nachholbedarf aufweisen, der hinsichtlich der strukturellen Trends analysiert und aufgearbeitet werden muss. Sonst drohen, auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung in Sachsen und in den Kohleregionen, Standortvorteile verloren zu gehen.

Auch auf akademischer Ebene konnten deutschlandweit nur wenige Bezugsquellen identifiziert werden, die sich mit dem Thema Wasserstoff auseinandersetzen und konkrete Qualifizierungen anbieten. So z.B. konzentriert sich das Fraunhofer Institut IFAM Bremen in seinem Weiterbildungsansatz auf »Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie in der Mobilität« und das NIQ (Netzwerkqualifikation) bietet eine Zusatzqualifikation „Netzingenieur/in Wasserstoff“ an.

Um auf den voraussichtlichen, wenn vorerst auch nur schrittweise entstehenden Bedarf an Fachkräften reagieren zu können, ist es notwendig, ein ausreichend großes und flexibles Angebot an Maßnahmen zur Weiterentwicklung bestehender Fähigkeiten und Kompetenzen zu etablieren. Derzeit zeichnet sich auch in der beruflichen und akademischen Ausbildung, insbesondere in einer grundständigen Berufsausbildung „Wasserstoff als Beruf“noch kein konkretes Bild oder eine breite Nachfrage ab. (vgl. Marc Bovenschulte)

Neue Berufsfelder und Qualifikationen in der Wasserstoffindustrie

Vom Institut für Innovation und Technik in Berlin wird prognostiziert, dass bis zum Jahr 2050 ca. 800.000 Arbeitsplätze betroffen sind, die in Deutschland direkt und indirekt mit der grünen Wasserstoffwirtschaft in Verbindung stehen. „Dafür wird weder genügend ausgebildet, noch werden Produktion und Entwicklung koordiniert.“

Auch Stefan Körzell, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) sieht „deutliche Lücken“in verschiedenen Ansätzen und Umsetzungen der Wasserstoffstrategien. „Ebenso müssen mögliche Fachkräfte-und Qualifizierungsbedarfe ermittelt werden, damit sich Bildungssystem und Arbeitsmarkt auf die neuen Anforderungen einstellen können. Die aktuellen Vorstöße und Entwicklungen sind stark auf technologische und wirtschaftliche Aspekte ausgerichtet, doch die Absicht „Erst die Technologie, dann die Beschäftigten“wird nicht aufgehen“, so Körzell.

Theresa zum Felde, Redakteurin beim Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft (BNW) gibt zu bedenken, „dass Lernen ein Prozess und der Aufbau von Wissen und Erfahrungen nicht von heute auf morgen möglich ist“. Erfahrungen bisheriger Vorreiter der Wasserstoffwirtschaft haben gezeigt, dass für jeden Beschäftigten ein halbes bis ganzes Jahr an zusätzlicher Qualifizierungszeit erforderlich wird.

In der Fachliteratur zur Arbeitsforschung, d.h. bzgl. Arbeitsplätzen, Arbeitsorganisationen und Beschäftigten konnte die Verfasserin nur vereinzelte konkrete Beiträge oder Hinweise über Berufsfelder, Kompetenzfelder und Qualifikationsbedarfe in der Wasserstoffwirtschaft auffinden konnte.

Lediglich ein führender Vertreter der Arbeitnehmerüberlassung publizierte eine Übersicht über neue Berufe, die im Engineering- und IT-Bereich im Zusammenhang mit der Wasserstoffwirtschaft entstehen werden (vgl. Brunel):

  • Designerinnen für Wasserstofftankstellen
  • Technikerinnen für Wasserstoff-Brennstoffzellen-Systeme
  • Betriebsleiterinnen für Wasserstoffkraftwerke
  • Managerinnen für die Qualitätskontrolle von Brennstoffzellen
  • Leiterinnen F&E im Bereich Wasserstoff-Brennstoffzelle
  • Ingenieurinnen für Wasserstoff-Energiesysteme
  • Betriebsingenieurinnen für Wasserstoff-Energie-Systeme
  • Fachkräfte für Wasserstoff-Energieentwicklung Ingenieurinnen für Brennstoffzellen-Design
  • Designer für Wasserstoffsysteme und Nachrüstung
  • Ingenieurinnen für Brennstoffzellen-Energiesysteme
  • Sicherheitsbeauftragte für Wasserstoffsysteme
  • Ingenieurinnen für Automobil-Brennstoffzellenelektronik
  • Projektleiterinnen für Emissionsreduzierung
  • Bauingenieurinnen für Wasserstoff-Pipelines
  • Fachkräfte für Gefahrstoffmanagement
  • Ingenieur*innen für Wasserstoff-Energie

Für die Gewinnung von Wasserstoff sind externe Energiequellen notwendig, die in Form von Elektrolyseverfahren umgesetzt werden. Dazu werden Kenntnisse für die Herstellung von technischen Systemen und Anlagen zur Produktion, Speicherung, Verteilung und Nutzung von Wasserstoff und der damit verbundenen Systemintegration erforderlich.

Die Herausforderung für die Ableitung von Qualifizierungsbedarfen liegt darin, dass mehrere Sektoren durch sog. Sektorkopplung miteinander zu betrachten und zu vernetzen sind, um sie ganzheitlich zu gestalten und weiterzuentwickeln. Im Bereich der Wasserstoffwirtschaft betrifft dies vor allem die Sektoren Elektrizität, Verkehr, Wärmeversorgung, Industrie und Logistik (vgl. Ökoinstitut e.V.: Die Wasserstoffstrategie 2.0 für Deutschland)

Im Energiesektor erfordern die Bedienung der Anlagen zur Wasserstoffherstellung spezielle Fähigkeiten, eine technische Grundausbildung reicht dafür nicht aus. Es besteht also Bedarf an Ingenieurinnen mit Elektrolyse- Know-how, Verfahrenstechnikerinnen und Elektrotechniker*innen ebenso wie an Fachkräften für die Automatisierung sowie den Maschinen- und Pipelinebau. Diese müssen sich, aufbauend auf ihrer technischen Grundausbildung weiter im Bereich der Wasserstofftechnologie qualifizieren und spezialisieren. Gleiches gilt für das Fachpersonal zum Betrieb und zur Wartung derartiger Systeme und Anlagen. (vgl. Theresa zum Felde und Marc Bovenschulte)

Im Mobilitätssektor müssen sich mehrere Bereiche gleichzeitig entwickeln: vom Energiesystem über die Antriebstechnologien bis hin zur Infrastruktur für Wasserstofftankstellen. Eine weitere Herausforderung ist, dass die Maschinen, Fahrzeuge und Tankstellen sicherheitstechnisch (neu) genormt und betreut werden müssen. Ebenso sind Vertriebsingenieure, Rettungskräfte und Pannendienste gefordert, sich mit der neuen Technologie auseinanderzusetzen. Im Verwaltungssektor werden weitreichende regulatorische, rechtliche und administrative Kenntnisse zur Anwendung von Zulassungsverfahren und Abnahmeprozessen notwendig.

Zusätzlich ergibt sich die neuartige Chance, bei Aufbau und Entwicklung einer effizienten Wasserstoffwirtschaft den Digitalisierungsprozess von Beginn an mitzudenken. Einerseits bedingt eine auf Wasserstoff skalierbare digitale Infrastruktur die effiziente Umsetzung des Transformationsprozesses. Andererseits bieten smarte Technologien bereits heute eine breite Palette an Anwendungsfeldern, welche sich kostengünstig in Wasserstoffprogramme integrieren lassen  (siehe folgende Abbildung von Dennis Schidat und Sven Weber).

Infrastrukturell ist als zentrale Querschnittsaufgabe die Etablierung eines Konzeptes anzusehen, welches Daten aus verschiedenen Bereichen und Initiativen in einen Pool integriert. Einerseits werden dadurch ein effizienteres Wissensmanagement und eine schnellere Lernkurveneffekte möglich, zum anderen weisen Wasserstoffprojekte die Besonderheit auf, dass sie ohne eine technologieübergreifende Betrachtung und Qualifizierung nicht umgesetzt werden können.

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Obwohl derzeit schwer absehbar ist, welche Berufsfelder umfassend betroffen sind, wurde jedoch eines deutlich: Die Qualifizierung muss entlang der gesamten Wertschöpfungskette erfolgen – von der Entwicklung und Herstellung über die Verteilung bis hin zur Nutzung von Wasserstoff. Dafür dürfte die Entwicklung eines Katalogs von Fähigkeiten, insbesondere für den noch mehrjährigen Hochlauf einer wettbewerbsfähigen Wasserstoffökonomie ausschlaggebend werden, um flexibel auf technische und regulatorische Änderungen reagieren zu können. Zentral werden dabei Fähigkeiten zur Problemlösung und zum eigenständigen Erschließen von Wissensquellen sein, um die individuellen Fähigkeiten der fortschreitenden Entwicklung anpassen zu können. (vgl. Theresa zum Felde)

Marc Bovenschulte schlägt zur Umsetzung vor, dass sich derartige Fähigkeiten auch in der Wasserstoffwirtschaft, insbesondere in Lehr-Lern-Settings entwickeln und erproben lassen, die durch Innovationsbezüge, Gruppenarbeit und Interaktion gekennzeichnet sind, da auf diese Weise neben dem Erwerb von aktuellem Fachwissen auch die zur Problemlösung erforderliche Interaktion und die „systemische“ Denkweise befördert werden. Was in der akademischen Aus- und Weiterbildung oftmals schon geübte Praxis ist und in den Laboren auch zum Thema Wasserstoff als projektbasiertes Lernen angeboten wird, muss ebenso der beruflichen Aus- und Weiterbildung ermöglicht werden.

Da es sich bei der Nutzung von Wasserstoff um eine neue Technologie mit viel Entwicklungspotenzial handelt, müssen Wissen und Erfahrungen aufgebaut, noch stärker konkretisiert, miteinander vernetzt und weiterentwickelt werden. Dies ist nur mit entsprechend qualifizierten Fachkräften möglich. Immer noch ist der Mensch die Quelle von Innovationen und Wissensträger für technologische Entwicklungen, die er durch seine Lernprozesse gestaltet.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Um diese Lernprozesse voranzutreiben, sind die Sicherung von sowohl einer technischen Grundausbildung als auch von Möglichkeiten der Weiterqualifizierung am Arbeitsplatz wichtige Voraussetzungen. Lernen muss zudem möglichst praxisorientiert organisiert werden.

Wenn es dabei derzeit noch an industriellen Anwendungen mangelt, sind Universitäten und Forschungseinrichtungen angehalten, ihre Labore auch für nichtakademische Fachkräfte zu öffnen. Auf diese Weise können die zum Wissenserwerb notwendigen, aber aufwendigen Installationen doppelt genutzt werden, bis sich ein breiter Arbeitsmarkt für Wasserstoff-Fachkräfte entwickelt.

Gefordert sind neben der Politik auch die Wirtschaft, Arbeitsmarktakteure, Bildungseinrichtungen und Sozialpartner. Gleichzeitig sollten künftige Förderprogramme immer auch Beschäftigungsaspekte und eine gesellschaftliche Begleitforschung berücksichtigen.
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In einem Positionspapier des DGB sind unter dem Schwerpunkt „Qualifiziert in die Wasserstoffwirtschaft“ erste Anforderungen an mögliche Fachkräfte- und Kompetenzprofile formuliert: „Auf dem Weg zur H2-ready workforce können Pilotprojekte dafür genutzt werden, um die Qualifikationsbedarfe der Zukunft zu identifizieren und anschließend entsprechende Programme breit auszurollen. Gleichzeitig ist es notwendig, die Gesellschaft einzubeziehen, um Akzeptanzprobleme beim Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft zu vermeiden.“ (vgl. DGB: „Gewerkschaftliche Anforderungen an die Wasserstoffwirtschaft“ vom Juli 2021)

Das Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft (BNW) hat das „Dialogforum Fachkräftebedarf Wasserstoff“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die Diskussion um die Fachkräftequalifikation zu befördern. Dazu wurden bisher drei Tätigkeitsfelder in die Qualifizierungsdiskussion einbezogen: Konstrukteur*innen, Wartungspersonal und Fahrzeugtechniker*innen.

Das Fachkräftebündnis SüdOstNiedersachsen (SON) mit seinem Projekt „Qualifizierung von Fachkräften für Zukunftstechnologien der Wasserstoffwirtschaft in der Region Süd-Ost-Niedersachsen“ zielt auf den Aufbau eines Qualifizierungsangebotes ab, das die relevanten Bereiche der Prozesskette in der Wasserstoffwirtschaft berücksichtigt und dieses mit niedrigen Eintrittshürden den Interessierten zugänglich macht.

Ein ebenso praxisnaher Ansatz zur rechtzeitigen Qualifikation der Mitarbeiter*innen für die Wasserstoffwirtschaft besteht darin, bereits zum Zeitpunkt der Entwicklung von neuen Produkten und Technologien die erforderlichen Qualifikationen mitzudenken. Forschungseinrichtungen und Hochschulen sollten deshalb in die Planung von Qualifikationsmaßnahmen einbezogen werden, um rechtzeitig und unter Gewährleistung der erforderlichen Sicherheitsstandards die notwendigen Kompetenzprofile (mit) zu entwickeln. „Weiterbildungsverbünde können dabei helfen, diese Einrichtungen mit Berufsschulen, Berufsgenossenschaften, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen und den Unternehmen zusammenzubringen, um rechtzeitig die Curricula und die Qualifikation der Lehrkräfte an die veränderten Anforderungen des Arbeitsmarkts anzupassen.“ (vgl. https://weiterbildungsverbund.digital/wasserstoff-kostet-das-neue-oel-arbeitsplaetze).

Ein weiterer Vorstoß wurde durch das Strukturwandelprojekt „Innovationsregion Mitteldeutschland“ initiiert. Die von der Prognos AG und index Research erstellte Studie „Fachkräfteentwicklung 2025+“ vom 16. Dezember 2021 untersuchte die zukünftigen Bedarfe und Potenziale für Fachkräfte sowie die Stärken und Schwächen bisheriger Strukturen und Strategien der Fachkräftegewinnung in den Mitteldeutschen Braunkohlerevieren. Auf dieser Basis wurden Ansätze zur Weiterentwicklung der Fachkräfteaktivitäten in der Region herausgearbeitet.

Positiv ist zu vermerken, dass in diesem Projekt mit der „Grünen Berufsorientierung“ Ansatzpunkte auch für die Wasserstoffberufe aufgezeigt werden, die im Zuge des Strukturwandels in den Bereichen Klimaschutz und Energiewende in der Region entstehen und eine attraktive Bleibeperspektive eröffnen.

Fazit

Zusammengefasst ist folgendes festzuhalten:

Zum einen gilt Wasserstoff als Schlüssel für eine Industriesektor-übergreifende Dekarbonisierung. Er kann jedoch nur dann wirtschaftlich und erfolgreich im Wettbewerb mit anderen Energieträgern bestehen, wenn die jeweiligen Wertschöpfungsketten mit Digitaltechnik unterstützt und die einzelnen Systeme möglichst effizient vernetzt werden. Digitalinnovationen, die bei der Auslastung der Wasserstoff- und Brennstoffzellensysteme einen hohen Wirkungsgrad garantieren und der Aufbau durchgehender Wasserstoffökosysteme auf Basis digitaler Plattformen werden dabei von entscheidender Bedeutung sein.

Zum anderen kann die Wasserstoffwirtschaft nur dann erfolgreich als Potentialträger etabliert werden, wenn entsprechende Qualifizierungspläne und -angebote auf allen Aus- und Weiterbildungsebenen mitziehen. Hierfür bedarf es einer anschlussfähigen, proaktiven „Kompetenzentwicklungsstrategie“. Die diesbezüglichen Aktivitäten werden von der Verfasserin in den kommenden Monaten weiterhin mit Spannung beobachtet und in einer umfassenden Studie ausgewertet.

Quellen und weiterführende Literatur

https://www.wasserstoffrat.de/fileadmin/wasserstoffrat/media/Dokumente/NWR_Aktionsplan_Wasserstoff_2021-2025_WEB-Bf.pdf

www.bmwi.de/Redaktion/DE/Wasserstoff/Dossiers/foerderberatung.html

https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/pressemitteilungen/de/2022/03/180322-SRIA.html?view=renderNewsletterHtml

https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/FAQ/IPCEI/01-faq-ipcei.html

https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/38820

https://www.handelsblatt.com/autoren/frank-specht/1985934.html

https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/wasserstoff-als-beruf-90910674.html

https://www.handelsblatt.com/autoren/frank-specht/1985934.htmlhttps://www.brunel.de/de-de/blog/wasserstoff-der-treibstoff-der-zukunft

https://www.isi.fraunhofer.de/de/competence-center/neue-technologien/projekte/h2-d.html

https://mwae.brandenburg.de/media/bb1.a.3814.de/Wasserstoff_Eckpunktepapier_Kohlelaender.pdf

https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/A/abschlussbericht-kommission-wachstum-strukturwandel-und-beschaeftigung.pdf?__blob=publicationFile&v=4

https://hzwo.eu/media/HZwo_Wasserstoffstudie-Sachsen_04-2021.pdf

https://www.energy-saxony.net/arbeitskreise/wasserstoff-in-industrie-und-gewerbe.html

https://www.hypos-eastgermany.de/wasserstoffregion/

https://www.hypos-eastgermany.de/fileadmin/content/downloads/pdf/hypos-
whitepaper_zur_strategiefortfuehrung_2017_0.pdf

www.hypos-eastgermany.de/blog/single/news_bildungsdienstleister-tritt-hypos-bei/

https://www.innovationsregion-mitteldeutschland.com/studie-empfiehlt-abgestimmtes-fachkraeftemarketing-fuer-mitteldeutsches-revier/

www.detecon.com/de/journal/chancen-der-digitalisierung-der-wasserstoffbranche

https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/struktur-industrie-und-
dienstleistungspolitik/energiepolitik/++co++94b664f2-dd6f-11eb-8ef8-001a4a160123

https://www.oeko.de/fileadmin/oekodoc/Die-Wasserstoffstrategie-2-0-fuer-DE.pdf

https://www.fachkraeftebuendnis-son.de/projekte/qualifizierung-wasserstoff/

https://www.bnw.de/magazin-beitrag/strukturwandel/fachkraefte-fuer-die-wasserstoffwirtschaft/

https://www.digihub.de/blogs/neue-studie-zeigt-mit-digitaltechnik-wird-wasserstoff-effektiver-und-
kostengunstiger

Autor
Dr. Manuela Grigorjan

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

ATB Arbeit, Technik und Bildung gGmbH

Geschäftsstelle Eilenburg
Maxim-Gorki-Platz 1
04838 Eilenburg